„Du musst doch empathisch sein!“

Wie oft hören wir diesen Satz? Im privaten Umfeld, im Beruf, in Führungsetagen. Empathie wird gefordert wie ein Automatismus – als wäre sie ein Schalter, den man einfach umlegen kann. Doch so einfach ist es nicht. Empathie, echtes Mitgefühl, kann man nicht erzwingen. Es ist kein Knopfdruck, sondern eine bewusste Entscheidung.

Empathie beginnt bei uns selbst

Empathie bedeutet, mitzufühlen – nicht nur mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen. Doch um mitfühlen zu können, muss ich erst einmal fühlen. Das setzt voraus, dass ich mit meinen eigenen Gefühlen in Kontakt bin. Wie soll ich die Trauer eines anderen Menschen halten, wenn ich meinen eigenen Zugang zur Trauer verloren habe? Wie soll ich Trost spenden, wenn ich mich nie der eigenen Verletzlichkeit gestellt habe?

Echtes Mitgefühl erfordert einen Zugang zu unseren eigenen Emotionen. Wer seine Gefühle verdrängt, kann kaum die Gefühle eines anderen erkennen oder halten. Das bedeutet: Empathie ist nicht nur eine Frage der Wahrnehmung des anderen, sondern vor allem eine Frage der Selbsterkenntnis.

Mitgefühl als bewusste Entscheidung

Es gibt Momente, in denen ich entscheide, mitzufühlen. Ich entscheide mich, den Raum zu öffnen, tiefer zu spüren, das Gefühl des anderen zuzulassen. Wenn ich im Coaching bei jemandem bin, der Trauer erlebt, kann ich ruhig sitzen bleiben, den Raum halten, präsent sein. Doch das gelingt nur, weil ich die Fähigkeit habe, meine eigene Trauer zu fühlen. Ich erlaube mir, das Gefühl zu berühren, und dadurch kann ich mitfühlen.

Mitgefühl ist keine Pflichtübung. Es ist eine bewusste Entscheidung: Bin ich bereit, mich dem Gefühl zu öffnen? Bin ich bereit, dem anderen auf dieser Ebene zu begegnen? Es braucht Mut, sich auf diese Art einzulassen, denn es bedeutet, selbst verletzlich zu sein.

Warum manche Menschen nicht empathisch sein können

Es gibt Menschen, die von anderen erwarten, dass sie empathisch sind, die selbst aber nicht in der Lage sind, mitzufühlen. Warum? Weil Empathie nicht auf Knopfdruck entsteht. Wer keinen Zugang zu seinen eigenen Gefühlen hat, kann auch kein Mitgefühl für andere entwickeln. Es ist wie ein verschlossenes Tor: Wenn ich den Schlüssel zu meinem eigenen Inneren nicht finde, kann ich auch das Tor zum Mitgefühl nicht öffnen.

Gerade in Führungspositionen wird oft gefordert: „Sei empathisch, zeig Mitgefühl!“ Doch wie soll das gehen, wenn die innere Verbindung fehlt? Hier zeigt sich die Wichtigkeit von emotionaler Intelligenz – nicht als leere Floskel, sondern als echte, tiefgreifende Kompetenz. Führungskräfte, die mitfühlend führen möchten, müssen bereit sein, ihre eigene Gefühlswelt zu erkunden.

Empathie als Schlüsselkompetenz in der Führung

Emotionale Intelligenz ist eine der wichtigsten Führungskompetenzen. In einer Zeit, in der Menschlichkeit und Authentizität immer mehr gefordert werden, reicht bloße Sachlichkeit nicht aus. Teams wollen verstanden werden, Menschen wollen gesehen werden. Doch dafür braucht es echte Empathie – kein gespieltes Mitgefühl, sondern eine Verbindung, die von innen kommt.

Führungskräfte, die empathisch sind, schaffen Räume, in denen sich Menschen sicher fühlen. Sie hören zu, nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem Herzen. Sie halten den Raum für schwierige Gefühle, ohne gleich in Aktionismus zu verfallen. Doch diese Fähigkeit setzt voraus, dass sie den Mut haben, sich selbst zu fühlen.

Mitgefühl ist kein Muss – es ist eine Haltung

„Du musst doch empathisch sein!“ Nein, niemand muss empathisch sein. Aber jeder kann sich entscheiden, es zu sein. Mitgefühl ist eine Haltung, eine Bereitschaft, die eigenen Mauern zu durchbrechen und dem anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Es bedeutet, tiefer zu schauen, tiefer zu fühlen, tiefer zu verstehen.

Und manchmal bedeutet es auch, ehrlich zu sagen: „Ich kann gerade nicht mitfühlen, ich bin nicht in der Lage dazu.“ Auch das ist eine Form von Authentizität und Klarheit.

Fazit: Empathie beginnt mit der Bereitschaft zu fühlen

Empathie ist kein Automatismus, sondern eine bewusste Entscheidung. Eine Entscheidung, sich selbst zu spüren und damit den Raum für das Mitgefühl mit anderen zu öffnen. Für Führungskräfte, Coaches und Menschen in verantwortungsvollen Rollen ist diese Fähigkeit essenziell – aber sie beginnt immer bei uns selbst.

Vielleicht sollten wir weniger fordern, empathisch zu sein, und uns stattdessen fragen: Bin ich bereit, zu fühlen? Bin ich bereit, mitzufühlen? Denn in dieser Bereitschaft liegt der Schlüssel für echte, menschliche Verbindung

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