Es ist Winter. Es ist kalt.
Wir packen uns ein, Schicht für Schicht: Unterhemd, Pullover, Überziehpulli, Weste, Jacke, Schal, Mantel, Halstuch, Mütze, Handschuhe. Wir vermummeln uns. Alles, um der Kälte zu trotzen, um geschützt zu sein, um sicher zu sein. Doch dieses Vermummen passiert nicht nur im Winter. Es passiert in uns. Auch unsere inneren Verletzlichkeiten schützen wir, polstern sie aus, decken sie zu. Ein schützender Kokon aus Masken, Vermeidung und vermeintlicher Stärke.
Aber genau hier liegt die entscheidende Frage – in meiner Arbeit, in meinem Leben, in meiner Haltung: Wie verletzlich zeige ich mich? Wie gehe ich mit den Verletzlichkeiten von anderen um? Und wie viel von unserer wahren Essenz verstecken wir unter all diesen Schichten?
Verletzlichkeit ist kein Makel, sondern eine Stärke
In unserer Gesellschaft wird Verletzlichkeit oft als Schwäche missverstanden. Wer sich verletzlich zeigt, wer Gefühle offenbart, wer Unsicherheiten zugibt, läuft Gefahr, „angreifbar“ zu sein. Also ziehen wir uns lieber ein dickes Fell über, verbergen unsere wahren Empfindungen, geben uns stark.
Doch ich bin der Meinung, dass wahre Stärke genau hier liegt: in der Bereitschaft, verletzlich zu sein. Verletzlichkeit bedeutet nicht Hilflosigkeit. Es bedeutet, offen zu sein, durchlässig zu sein und gleichzeitig aufrecht durch die Welt zu gehen. Verletzlichkeit ist der Mut, die Maske abzunehmen und zu sagen: „Das bin ich. Das fühle ich. Und das ist in Ordnung.“
Verletzlichkeit nach der Heilung
Natürlich können wir uns nicht jederzeit und überall verletzlich zeigen. Manche Wunden sind noch frisch, manche Schmerzen noch zu tief. Doch wenn wir unsere tiefen Verletzungen geklärt haben, wenn wir vergangene Traumata bewusst durchlebt und integriert haben, verändert sich etwas. Die Verletzung wird nicht verschwinden, aber sie tut nicht mehr weh. Sie wird zu einer Narbe, zu einer Erinnerung, die uns daran erinnert, wie stark wir sind.
Es ist wie bei einer kleinen Schürfwunde am Knie. Solange sie frisch ist, zucken wir bei jeder Berührung zusammen. Doch wenn sie heilt, können wir die Stelle berühren, ohne Schmerz zu empfinden. Genau dann können wir uns zeigen – verletzlich, aber nicht schutzlos.
Warum Verletzlichkeit in der Arbeit mit Menschen entscheidend ist
In meinen Coachings, Trainings und Vorträgen ist Verletzlichkeit ein Kernwert. Ich lade die Menschen ein, ihre Schichten zu hinterfragen. Wo vermummst du dich? Welche Masken trägst du? Welche Gefühle hältst du zurück, aus Angst, nicht stark genug zu wirken?
Echte Begegnung, echte Entwicklung kann nur entstehen, wenn wir uns trauen, verletzlich zu sein. Wenn Führungskräfte, Coaches oder Unternehmer:innen den Mut haben, ihre eigenen Unsicherheiten zuzulassen, passiert etwas Wundervolles: Vertrauen wächst. Menschlichkeit wird spürbar. Das Miteinander wird authentischer.
Verletzlichkeit öffnet Türen, die mit bloßer Stärke verschlossen bleiben. Sie schafft Räume, in denen Klarheit, Verständnis und Verbindung möglich werden.
Durchlässig und aufrecht durch die Welt gehen
Verletzlich zu sein heißt, durchlässig zu sein. Es bedeutet, sich von der Welt berühren zu lassen, statt sich abzuschotten. Es bedeutet, den eigenen Schutzwall abzubauen und gleichzeitig aufrecht zu stehen – mit all dem, was uns ausmacht. Mit unseren Erfahrungen, unseren Narben, unserer Geschichte.
Gerade in einer Welt, die uns oft zur Unverwundbarkeit drängt, ist diese Haltung ein Akt des Mutes. Sie sagt: „Ich bin hier. Mit allem, was ich bin. Und das ist genug.“
Fazit: Zeigen wir uns – trotz Kälte
Ja, es ist Winter. Ja, es ist kalt. Doch vielleicht sollten wir nicht immer jede Schicht überziehen, nicht jede innere Kälte fürchten. Vielleicht sollten wir uns öfter zeigen – verletzlich, offen, ehrlich. Denn genau darin liegt die wahre Stärke.
Statt uns zu vermummen, könnten wir uns entblättern. Statt Masken zu tragen, könnten wir uns zeigen. Statt Mauern zu bauen, könnten wir Räume öffnen. Räume, in denen echte Begegnung möglich ist.
Denn am Ende ist es die Verletzlichkeit, die uns verbindet, die uns menschlich macht, die uns stark macht. Also ziehen wir ruhig ein paar Schichten aus – und gehen aufrecht durch die Welt.