Wir alle kennen diese Momente,

in denen uns etwas im Alltag plötzlich wütend macht, traurig stimmt oder irritiert – oft ohne, dass wir wirklich verstehen, warum. Jemand sagt etwas Alltägliches, eine kleine Bemerkung vielleicht, oder er verhält sich ganz normal, und doch entstehen in uns Gefühle, die unverhältnismäßig erscheinen. Genau hier beginnt das Phänomen Projektion: Wir projizieren etwas auf einen anderen Menschen, das in Wahrheit aus unserem eigenen Inneren stammt. Etwas, das wir nicht sehen wollen, nicht anrühren möchten oder noch nicht verarbeitet haben.

Vor kurzem hatte ich eine dieser Situationen. Ein Freund war zu Besuch, und ich zeigte ihm ein Klapprad im Keller, das ich verkaufen wollte. Er wollte es aufbauen, dann reichte er es mir rüber und sagte: „Mach du.“ Es ging ein Hin und Her, ein fast banaler Austausch, und plötzlich spürte ich etwas Seltsames: ein Gefühl, als würde ich vorgeführt. Wie damals in der Schule. Eine alte Szene tauchte auf, vollkommen unerwartet. Ich stand innerlich wieder vorne an der Tafel, konnte eine Aufgabe nicht lösen, und der anschließende Blick, das Ausgelachtwerden, die Scham – all das war wieder da. Und ich sagte: „Du, ich gehe mal kurz raus, ich muss weinen.“ Nicht wegen des Fahrrads, nicht wegen des Moments, sondern wegen der alten Wunde, die sich gemeldet hatte.

Genau das ist Projektion: Ein kleiner, äußerlich belangloser Moment trifft eine innere Stelle, die noch nicht geheilt ist. Wir reagieren nicht auf das Jetzt, sondern auf das Damals. Wir reagieren nicht auf die Person vor uns, sondern auf die Erinnerung in uns. Und weil diese Erinnerung oft schmerzhaft ist, weil sie Scham oder Hilflosigkeit oder alte Verletzung enthält, schieben wir sie instinktiv von uns weg – und richten sie auf den anderen. Der andere wird dann zum Auslöser, zum vermeintlichen Verursacher, obwohl er in Wahrheit nur der Spiegel war.

Projektion bedeutet, etwas im Außen zu bekämpfen, das im Innen gesehen werden möchte. Es ist eine Schutzstrategie, eine Art seelischer Reflex, der sagt: „Ich ertrage diesen Schmerz nicht, also lege ich ihn nach draußen.“ Wir werfen dem anderen vor, dass er uns verletzt, irritiert oder provoziert hat, obwohl der Impuls oft aus der Tiefe unserer eigenen Vergangenheit kommt. Und genau deshalb ist Projektion so machtvoll – und so zerstörerisch. Sie verhindert, dass wir die Verantwortung für unsere eigenen Gefühle übernehmen. Sie verhindert, dass wir verstehen, was wirklich in uns arbeitet.

Selbstführung beginnt dort, wo wir diesen Mechanismus erkennen. Dort, wo wir uns eingestehen, dass nicht jeder Schmerz von außen kommt. Dort, wo wir innehalten und uns fragen: Was genau wurde da gerade in mir berührt? Was kenne ich von früher? Warum fühlt sich diese kleine Situation so groß an? Wenn wir diesen Moment aushalten, ohne sofort zurückzuschießen oder die Schuld beim anderen zu suchen, entsteht ein leiser Raum für Erkenntnis. Ein Raum, in dem wir uns selbst begegnen.

Es braucht viel Selbstreflexion, viel Klärungsarbeit und oft eine ehrliche Bereitschaft, die eigenen Schatten anzuschauen. Es braucht Mut, den erhobenen Finger sinken zu lassen und zu erkennen: Dieses Gefühl gehört zu mir. Diese Wunde ist meine. Und genau deshalb ist dieser Prozess so befreiend. Denn wenn wir unsere Projektionen erkennen, lösen wir uns von der ständigen Schuldverteilung. Wir hören auf, andere für unsere Gefühle verantwortlich zu machen. Und wir treten ein in ein friedlicheres, erwachseneres Miteinander.

Wer die eigene Projektion erkennt, wird milder – mit sich und mit anderen. Wir sehen dann nicht mehr nur die Worte, die jemand sagt, sondern spüren, was in uns selbst anklingt. Wir begegnen unseren Mitmenschen anders. Nicht mehr aus dem Reflex heraus, uns zu verteidigen, sondern aus einer inneren Klarheit. Wir sehen, dass der andere uns nicht verletzen wollte. Wir sehen, dass unser Schmerz älter ist als die Situation. Und wir erkennen, dass wir die Verantwortung für unser Erleben selbst tragen dürfen – und können.

Eine Projektion zu entlarven ist ein Moment der Freiheit. Es ist der Augenblick, in dem wir verstehen: Ich reagiere nicht auf dich, ich reagiere auf mich. Und genau hier beginnt der Weg zu einem friedlichen, aufrichtigen Miteinander. Es ist der erste Schritt einer Reihe, in der wir uns unseren inneren Landschaften zuwenden – und lernen, wie wir mit Kränkung, Triggern und alten Verletzungen so umgehen können, dass sie uns nicht länger steuern.

 

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