„Was sind denn Annahmen?“,
fragte mich neulich eine Kundin. Eine Frage, die im ersten Moment simpel klingt, aber tiefer geht, als man denkt. Annahmen sind all das, was wir über die Welt denken oder glauben, ohne es wirklich zu wissen. Es sind die Brillen, durch die wir die Realität betrachten. Doch das Problem mit diesen Brillen ist: Sie verzerren das Bild. Die Welt ist nie einfach nur das, was sie ist. Sie ist das, was wir aus ihr machen.
Der französische Schriftsteller Jean Anouilh sagte einmal: „Die Dinge sind nie so, wie sie sind. Sie sind immer das, was man aus ihnen macht.“ Genau das trifft den Kern der Annahmen. Unsere Erfahrungen, unsere Glaubenssätze, unsere Hypothesen formen unsere Sicht auf die Welt – und oft auch aufeinander.
Annahmen sind wie unsichtbare Skripte
Annahmen sind wie Drehbücher, die wir im Kopf haben. Skripte, die uns leise sagen:
- „Dieser Kollege ist immer so unzuverlässig.“
- „Mein Chef versteht mich sowieso nicht.“
- „Diese Aufgabe schaffe ich niemals.“
Doch diese Skripte sind nicht die Realität. Sie sind Konstrukte, die wir uns selbst bauen – geprägt durch frühere Erlebnisse, durch Geschichten, die wir uns immer wieder erzählen, und durch Muster, die wir verinnerlicht haben. Sie bestimmen, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir reagieren, wie wir handeln.
Annahmen verhindern echte Begegnung
In meiner Arbeit als Coach und Trainerin sehe ich oft, wie Annahmen echte Begegnungen verhindern. Wenn wir glauben zu wissen, was der andere denkt oder fühlt, hören wir nicht mehr wirklich zu. Wenn wir davon überzeugt sind, wie eine Situation ausgehen wird, geben wir ihr keine Chance, sich anders zu entwickeln.
Annahmen sind wie unsichtbare Mauern, die zwischen uns stehen. Sie halten uns fest in unserer Perspektive und blockieren den Raum für neue Wahrheiten. Doch genau hier liegt das Potenzial für Veränderung.
Annahmen auflösen – Platz für die Wahrheit schaffen
In meinen Coachings und Trainings geht es darum, diese Annahmen zu hinterfragen und aufzulösen. Denn wenn wir unsere Annahmen beiseitelegen, entsteht plötzlich Klarheit. Wir sehen den Menschen vor uns, wie er wirklich ist, nicht wie wir denken, dass er ist. Wir erleben die Situation, wie sie sich entfaltet, nicht wie wir befürchten, dass sie enden wird.
Wenn Annahmen fallen, hat die Wahrheit mehr Platz. Die Wahrheit zwischen zwei Menschen, zwischen einem Menschen und einem Unternehmen, zwischen einer Idee und ihrer Umsetzung.
Wie wir Annahmen loswerden
Es gibt verschiedene Wege, Annahmen zu erkennen und aufzulösen:
1. Fragen stellen:
- „Ist das wirklich wahr?“
- „Kann ich das mit absoluter Sicherheit wissen?“
Oft reicht diese einfache Frage, um zu erkennen, dass eine Annahme nur ein Konstrukt ist.
2. Perspektivwechsel:
- „Wie würde jemand anderes diese Situation sehen?“
- „Welche anderen Erklärungen könnten möglich sein?“
Der Blick durch die Augen eines anderen öffnet neue Horizonte.
3. Beobachten statt bewerten:
Statt sofort zu urteilen, einfach beobachten, was wirklich passiert. Ohne Interpretation, ohne Schlussfolgerung.
4. Den Dialog suchen:
Manchmal hilft es, die eigene Annahme auszusprechen und nachzufragen: „Ich nehme an, dass du das so und so siehst. Stimmt das?“ Oft lösen sich Annahmen in einem echten Gespräch auf.
Die Freiheit jenseits der Annahmen
Wenn wir unsere Annahmen loslassen, geschieht etwas Befreiendes. Die Welt wird offener, Begegnungen werden ehrlicher, Lösungen werden kreativer. Wir sind nicht mehr gefangen in unseren Skripten, sondern erleben die Realität in ihrer ganzen Vielfalt.
Annahmen zu hinterfragen bedeutet, mutig zu sein. Es bedeutet, die eigene Sichtweise nicht als absolute Wahrheit zu betrachten, sondern Raum für Neues zu schaffen. Es bedeutet, sich selbst und anderen die Möglichkeit zu geben, sich wirklich zu zeigen.
Fazit: Die Dinge sind nicht, wie sie sind – sie sind, was wir aus ihnen machen
Jean Anouilh hatte Recht: Die Dinge sind nie einfach nur so, wie sie sind. Sie sind das, was wir aus ihnen machen. Unsere Annahmen formen unsere Welt. Doch wir haben die Wahl, diese Annahmen zu hinterfragen, sie aufzulösen und die Wahrheit freizulegen.
Vielleicht ist das der größte Schritt zu echter Klarheit und authentischer Begegnung: zu erkennen, dass unsere Sichtweise nur eine von vielen ist – und dass jenseits unserer Annahmen eine Welt wartet, die größer, reicher und wahrhaftiger ist, als wir es uns vorstellen können.