Und warum es uns hilft, jetzt wirklich zu leben

Drei Tage.
Ich war 22 oder 23.
Drei Tage saß ich neben ihr. Still. Ich hatte nichts zu tun, außer zu warten.
Worauf wartete ich eigentlich?
Auf ihren Tod. Ja, ich wartete darauf, dass diese 102-Jährige friedlich stirbt.

Aber während ich wartete, geschah etwas anderes.
Ich hörte zu. Ich sah hin. Ich spürte.

Und plötzlich wurde aus dem Warten ein Sein.

Ich hielt ihre Hand und schaute in ihre weisen, klaren Augen. In diesen letzten Tagen sprach sie wenig, aber wenn sie sprach, war jedes Wort ein Echo ihres gelebten Lebens.
Kein Smalltalk. Keine Floskeln.
Nur das, was wirklich zählt.

Und das, was wirklich zählt, wird einem oft erst am Ende bewusst.

Was Sterbende bereuen

Ich habe viele Menschen in ihren letzten Stunden, Tagen und Wochen begleitet. Ich saß an Betten, hörte letzte Worte, spürte die Stille zwischen den Atemzügen.
Und wenn ich eines gelernt habe, dann das:

Sterbende bereuen nicht ihre Fehler.
Sie bereuen nicht, dass sie nicht genug Geld verdient haben.
Sie bereuen nicht, dass sie nicht noch ein neues Auto gekauft haben oder dass sie im Job nicht noch mehr Überstunden gemacht haben.

Aber sie bereuen, nicht wirklich gelebt zu haben.

Sie bereuen, ihre wahren Gefühle nicht gezeigt zu haben.
Sie bereuen, sich verschlossen zu haben, aus Angst vor Schmerz oder Enttäuschung.
Sie bereuen, nicht den Mut gehabt zu haben, ihren eigenen Weg zu gehen.
Sie bereuen, dass sie Zeit mit Dingen und Menschen verbracht haben, die ihnen nichts bedeuteten.
Sie bereuen, Liebe nicht zugelassen, Träume nicht verfolgt, Gespräche nicht geführt zu haben.

Und dann?

Dann liegt das Leben hinter ihnen – und es bleibt keine Zeit mehr, etwas zu ändern.

Die Sanduhr des Lebens läuft – wie wollen wir diese Zeit nutzen?

Wir alle wissen, dass unser Leben endlich ist. Aber die meisten von uns verdrängen es.
Wir tun so, als hätten wir unendlich viele Jahre, um zu lieben, um zu lachen, um das Leben wirklich zu spüren.
Aber was, wenn wir aufwachen und feststellen, dass die Zeit fast vorbei ist?

Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute, die vergeht, ist ein Korn in der Sanduhr, das unwiederbringlich nach unten fällt.

Wie gestalten wir die Zeit, die uns bleibt?

Lassen wir uns vom Leben treiben, immer mit dem Gedanken „irgendwann später“?
Oder nehmen wir die Verantwortung für unser Leben in die Hand – jetzt, heute?

Sterbende können uns so viel lehren, wenn wir bereit sind, hinzuhören.

Sie zeigen uns, dass es sich nicht lohnt, nachtragend zu sein.
Dass es sich nicht lohnt, sich kleinzuhalten oder auf den „richtigen Moment“ zu warten.
Dass es sich nicht lohnt, sich vor dem Leben zu schützen – weil es dann einfach vorbeizieht, ohne dass wir es wirklich gespürt haben.

Wie wir ohne Reue leben können

Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Es geht nicht darum, keine Fehler zu machen.
Aber es geht darum, die wichtigen Dinge in Ordnung zu bringen, bevor es zu spät ist.

Fragen wir uns ehrlich:

  • Habe ich den Menschen, die mir wichtig sind, gesagt, dass ich sie liebe?

  • Habe ich meine Wahrheit gelebt oder die Erwartungen anderer erfüllt?

  • Habe ich wirklich gespürt – Freude, Schmerz, Sehnsucht, Liebe?

  • Habe ich vergeben – mir selbst und anderen?

Wenn wir unser Leben bewusst gestalten, wenn wir unsere Beziehungen klären, wenn wir unsere Herzensangelegenheiten nicht aufschieben, dann können wir eines Tages friedlich darauf zurückblicken. Ohne Bitterkeit. Ohne das nagende Gefühl, dass wir Dinge nicht mehr in Ordnung bringen können.

Dann ist der letzte Übergang kein Moment der Angst, sondern einer der Vollendung.

Das Leben geschieht jetzt

Ich saß damals an diesem Bett und hielt die Hand dieser alten Frau, während ihr Leben zu Ende ging.
Und heute, viele Jahre später, trage ich ihre Worte in mir.

Lebe, solange du kannst.
Öffne dein Herz.
Erlaube dir, zu spüren.
Warte nicht auf später.
Denn später ist jetzt.

 

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