Kürzlich habe ich ein Bild gemacht.
Es zeigt meine Beine, einen Rock – und den Schatten eines Gittertisches, der sich wie ein Raster über meine Haut legt. Wer nur kurz hinsieht, könnte meinen, ich trage eine Netzstrumpfhose. Doch das ist ein Trugschluss. Es ist nur ein Schatten. Ein Schattenspiel, das eine Wirkung entfaltet – vielleicht sogar eine Irritation auslöst. Und genau darum geht es mir.
Wie oft sehen wir etwas – und glauben, sofort zu wissen, was es ist? Wie schnell schließen wir von einem äußeren Reiz auf eine Bedeutung, auf eine Absicht, auf eine Geschichte? Unser Gehirn ist ein Meister der Interpretation. Es liebt es, Zusammenhänge zu konstruieren, Lücken zu füllen, mit dem, was wir kennen, erwarten oder befürchten. Und genau das ist im Alltag – besonders im beruflichen Kontext – nicht nur spannend, sondern auch gefährlich.
Denn was wir sehen, ist oft nicht die Realität, sondern unsere Version davon. Unsere Interpretation. Unsere Konnotation. Ein Schatten wird zur Strumpfhose. Ein Satz wird zur Kritik. Eine Geste wird zur Ablehnung. Ein Blick wird zur Bewertung. Und das alles geschieht innerhalb von Sekunden. Unbewusst. Automatisch. Und wir glauben es.
Diese Dynamik beobachte ich seit vielen Jahren in der Arbeit mit Menschen – mit Führungskräften, Teams, Unternehmerinnen, Entscheidern. Es ist nicht nur entscheidend, wie wir andere wahrnehmen, sondern auch, wie wir selbst wahrgenommen werden. Und wie sehr diese Wahrnehmung von Projektionen, Deutungen und inneren Filtern geprägt ist.
Deshalb ist es für mich ein zentrales Anliegen, immer wieder dazu einzuladen, genau hinzuschauen. Den Unterschied zu erkennen zwischen einer Information und der eigenen Interpretation. Zwischen dem, was wirklich gesagt wurde – und dem, was wir daraus machen. Zwischen Beobachtung und Bewertung. Das klingt einfach, ist aber oft eine tiefe innere Arbeit.
Besonders wichtig ist das für Menschen in Verantwortung. Für Führungspersönlichkeiten. Für alle, die mit ihren Worten, ihrer Haltung und ihrer Präsenz andere beeinflussen. Denn wer sich selbst nicht klar sieht, wird auch von anderen nicht klar gesehen. Wer ungenaue Signale sendet – sei es in Sprache, Mimik, Körpersprache oder Entscheidungen –, erzeugt Unklarheit im Gegenüber. Und Unklarheit ist der Feind von Vertrauen, Orientierung und Wirksamkeit.
Eine Führungskraft, die Wischi-Waschi spricht, Wischi-Waschi denkt oder sich in vagen Gesten verliert, verliert sich selbst – und wird auch andere verlieren. Deshalb braucht gute Führung eine klare Selbstwahrnehmung, eine bewusste Kommunikation und ein Gespür dafür, was wir senden und empfangen. Nicht im Sinne von Kontrolle, sondern im Sinne von Klarheit.
Ich nenne das manchmal eine „sinnliche Nüchternheit“ – eine Wachheit, die nicht kühl, aber auch nicht überreizt ist. Eine Präsenz, die nicht alles emotional auflädt, sondern differenziert hinschaut. Eine innere Ruhe, die erkennt: Das eine ist, was ich sehe. Und das andere ist, was ich daraus mache.
Dieses Bild mit dem Gittermuster auf der Haut erinnert mich selbst daran. Und vielleicht regt es auch andere an, sich zu fragen: Was sehe ich wirklich? Und was glaube ich nur zu sehen?