„Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank.“
Ein Satz, den wir im Alltag schnell mal so dahinwerfen – als Witz, als Provokation, manchmal liebevoll gemeint, manchmal eher abschätzig.
Aber neulich, während meines Umzugs, habe ich ihn plötzlich ganz neu verstanden.
Denn: Ich habe jetzt tatsächlich alle Tassen im Schrank. Wirklich.
Über mehrere Tage hinweg habe ich Kartons ausgepackt, die zum Teil jahrelang unter meinem Bett, auf dem Schrank oder tief hinten in irgendwelchen Ecken standen. Und ich habe sie sortiert: meine Tassen.
Was zunächst wie eine banale Haushaltsaufgabe begann, wurde für mich zu einer kleinen Reise.
Denn mit jeder Tasse kam auch eine Erinnerung mit ans Licht:
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Die Tasse von meiner ersten Frankfurter Buchmesse.
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Ein Geschenk zur Hochzeit.
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Eine handgemachte aus Neuseeland, mitgebracht von einer Reise ans andere Ende der Welt.
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Eine aus Shanghai – klein, filigran, voller Geschichte.
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Eine Tasse, die ich mir bewusst gekauft habe, um einen neuen Lebensabschnitt zu markieren.
Jede Tasse steht für einen Moment. Für einen Ort. Für einen Menschen. Für eine Phase meines Lebens.
Und jetzt stehen sie alle da – nebeneinander, sichtbar, greifbar.
Und ich merke: Das ist nicht nur ein Küchenschrank voller Keramik. Das bin irgendwie auch ich.
Was hast du eigentlich für Tassen im Schrank?
Diese Frage geht für mich weit über die Küche hinaus.
Sie wird zur Einladung, innezuhalten und zu reflektieren:
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Welche „Tassen“ habe ich im Alltag – welche Themen, Gedanken, Gefühle, Routinen begleiten mich?
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Was trage ich mit mir herum, das ich vielleicht lange beiseitegestellt habe?
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Was habe ich gesammelt – bewusst oder unbewusst – auf meinem Lebensweg?
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Was ist meine innere Fülle? Was zeigt sich im Außen?
Und weitergedacht:
Was beschäftigt mich gerade?
Was denke ich über andere – und was glauben andere über mich?
„Alle Tassen im Schrank haben“ – dieses Sprichwort kann man auch als Frage lesen:
Bin ich noch ganz bei mir? Funktioniere ich so, wie andere es erwarten? Bin ich „normal“ genug?
Aber was, wenn es genau darum nicht geht?
Was, wenn es vielmehr darum geht, die eigenen Tassen im Schrank zu erkennen – sie sich anzuschauen, vielleicht auch mal neu zu sortieren, zu entscheiden, welche ich behalten möchte, welche nicht mehr zu mir passen?
Für mich ist dieser Prozess ein Symbol für Achtsamkeit, für das bewusste Gestalten des eigenen Lebensraums – im Außen wie im Inneren.
Und ja: Ich habe jetzt alle Tassen im Schrank.
Nicht perfekt geordnet. Nicht alle heil. Aber alle da.
Und das fühlt sich erstaunlich gut an.