Von Barbara Messer, Horizonautin
Es gibt kaum etwas, das so viel Kraft kostet, wie das Ignorieren einer Wahrheit, die längst da ist.
Wir tun es dennoch. Täglich.
Wir verdrängen, verschieben, lenken uns ab.
Wir sagen Sätze wie:
„Das will ich gar nicht wissen.“
„Das fühle ich jetzt lieber nicht.“
Oder ganz subtil: „Dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.“
Was wir oft nicht sehen:
Ignorieren ist kein passiver Zustand. Es ist Arbeit. Und zwar eine sehr anstrengende.
Nicht-Wahrhaben-Wollen als psychischer Kraftakt
Wenn ich etwas nicht fühlen will – sei es Schmerz, Verlust, Enttäuschung oder eine unangenehme Erkenntnis über mich selbst – dann bedeutet das nicht, dass dieser Inhalt verschwindet.
Er ist da.
Aber ich muss aktiv dafür sorgen, dass er nicht ins Bewusstsein dringt.
Ich halte ihn zurück. Ich deckle ihn. Ich schiebe ihn weg.
Und das, immer und immer wieder.
Nicht ein Mal – sondern in Dauerschleife.
So entsteht ein Zustand permanenter innerer Spannung.
Nicht sichtbar. Aber spürbar.
Im Körper. In der Seele. In der Energie.
Die Verleugnungsphase nach Elisabeth Kübler-Ross
Elisabeth Kübler-Ross hat in ihrem Modell über die fünf Phasen des Sterbens und des Umgangs mit Verlust die Verleugnungsphase an den Anfang gestellt.
Die erste Reaktion auf eine erschütternde Wahrheit – etwa eine tödliche Diagnose – lautet oft: „Nein. Das kann nicht sein.“
Das ist nicht dumm. Und nicht schwach.
Es ist ein Schutzreflex der Psyche.
Ein Mechanismus, der uns Zeit verschafft.
Ein seelisches Einfrieren, bis wir wieder handlungsfähig sind.
Doch Kübler-Ross wusste auch:
Wenn wir in dieser Phase steckenbleiben, wird aus Schutz Erstarrung.
Dann wird das „Nicht-Wahrhaben-Wollen“ zur Lebensweise.
Und das kostet Substanz.
Denn so sehr wir eine Wahrheit auch unterdrücken – sie klopft weiter.
Und je länger wir sie nicht einlassen, desto lauter wird sie.
Desto mehr Energie brauchen wir, um sie fernzuhalten.
Die Erschöpfung des Verdrängens
Viele Menschen fühlen sich chronisch erschöpft, ohne krank zu sein.
Sie sind überreizt, unruhig, leer – ohne klaren Grund.
In vielen Fällen liegt der Grund nicht im Außen.
Sondern im Innen.
Im dauerhaften Energieverlust, der entsteht, wenn wir etwas nicht fühlen wollen.
Das kann eine Beziehung sein, die innerlich längst vorbei ist.
Ein Beruf, der uns nicht mehr erfüllt.
Ein Selbstbild, das nicht mehr trägt.
Oder ein Schmerz, den wir seit Jahren nicht anschauen.
Solange wir das Ignorieren aufrechterhalten, leben wir mit angezogener Handbremse.
Wir funktionieren.
Aber wir fühlen nicht mehr.
Wir sind kontrolliert – aber nicht mehr lebendig.
Was es braucht, um loszulassen
Es braucht Mut, die Kontrolle aufzugeben.
Es braucht Raum. Zeit. Und manchmal auch Begleitung.
Aber es braucht vor allem:
Die Erlaubnis, dass das, was ist, auch da sein darf.
Nicht, damit es uns zerstört.
Sondern damit es uns nicht mehr von innen auffrisst.
Denn Wahrheit hat eine eigene Intelligenz.
Sie wartet. Sie kommt wieder.
Nicht, um uns zu quälen –
sondern um uns vollständig zu machen.
Wahrhaftigkeit statt Erschöpfung
Das Paradoxe ist:
Wir glauben, dass uns das Hinsehen kaputt macht.
Aber oft ist es genau das Gegenteil.
Wenn wir aufhören zu kämpfen – gegen das Wissen, das Gefühl, die Realität –
dann kehrt Energie zurück.
Nicht sofort in Freude. Aber in Klarheit.
In Echtheit. In Weite.
Es ist wie das Aufatmen nach einem langen Tauchgang.
Wie das Loslassen eines schweren Koffers, den wir so lange getragen haben, dass wir sein Gewicht gar nicht mehr bemerkt haben.
Fazit: Du darfst hinsehen. Und du darfst müde sein vom Vermeiden.
Wir sprechen viel über Überlastung, über Stress, über Anforderungen von außen.
Aber vielleicht liegt ein Teil unserer Erschöpfung nicht im Tun –
sondern im Nicht-Fühlen-Wollen.
Die Wahrheit, die du vermeidest, ist vielleicht genau der Punkt, an dem Leben wieder fließen kann.
Nicht, weil alles dadurch besser wird.
Sondern, weil du endlich wieder ganz da bist.