Stell dir eine Führungskraft vor,
die in einem Seminar sitzt und immer wieder dasselbe Thema zur Sprache bringt: Ihre Vorgesetzte schreibt nicht freundliche E-Mails. Immer und immer wieder erzählt sie von den unfreundlichen Worten, der fehlenden Wertschätzung und wie schwierig die Kommunikation dadurch wird. Ich bot ihr an, die Situation einmal anders zu betrachten, einen Perspektivwechsel zu wagen und gemeinsam im Seminar an einer Antwortstrategie zu arbeiten. Doch sie lehnte jedes Angebot ab und kam immer wieder zurück zur Klage über ihre Vorgesetzte. Ein klassisches Beispiel für das Prinzip „lieber leiden als lösen.“
Warum bleibt das Leiden so verlockend?
Leiden ist oft ein vertrautes Terrain. In der Beschwerde fühlen wir uns gehört und bestätigt. Es ist ein kleiner Hafen, ein Rückzugsort, an dem wir Recht behalten können. Solange das Problem dort „draußen“ ist – bei der unfreundlichen Vorgesetzten – müssen wir selbst nichts verändern. Leiden zu wählen, gibt uns das Gefühl, in der Opferrolle zu sein, was ironischerweise oft mit einem Gefühl der Kontrolle verbunden ist: Ich kann nichts ändern, weil die andere Person sich nicht ändert.
Doch das Leiden ist auch ein Ort der Stagnation. Es fordert keine Anstrengung, keine Selbstreflexion und keine Konfrontation mit dem eigenen Verhalten. Das „Lösen“ hingegen verlangt von uns, in die Eigenverantwortung zu gehen – es fordert, uns selbst zu hinterfragen, den ersten Schritt zu machen und uns in die Handlung zu wagen. Das ist unbequem und kann herausfordernd sein, aber es öffnet auch den Raum zur Veränderung.
Der Weg vom Leiden zum Lösen
Was braucht es, um diesen Schritt zu wagen? Zunächst einmal den Mut, das Problem als Chance zur Entwicklung zu sehen, statt als unüberwindbare Hürde. Dabei helfen diese Impulse:
Der erste Schritt: Die Frage hinter der Klage erkennen
Statt bei der Beschwerde stehen zu bleiben, können wir uns fragen: Was ärgert mich hier wirklich? Ist es die fehlende Wertschätzung? Die fehlende Klarheit? Indem wir das Kernproblem herausarbeiten, können wir Klarheit darüber gewinnen, was uns stört und was wir wirklich brauchen.
Eigenverantwortung statt Opferrolle: Jeder von uns kann entscheiden, wie wir auf Situationen reagieren. Wenn wir immer wieder in die Opferrolle schlüpfen und warten, dass andere sich ändern, verlieren wir unsere eigene Macht. Eigenverantwortung heißt, zu erkennen, dass wir selbst die Möglichkeit haben, aktiv zu handeln – und dass wir unsere eigenen Grenzen setzen können.
Die Kraft der Reaktion: Wie reagiere ich auf die unfreundlichen E-Mails? Möglicherweise liegt hier der Schlüssel. Anstatt gekränkt zu sein oder sich in die Defensive zu begeben, können wir üben, gelassen und klar zu antworten. Wir können uns entscheiden, bewusst und wertschätzend zu reagieren – unabhängig davon, wie das Gegenüber kommuniziert. Dies schafft nicht nur eine andere Dynamik, sondern stärkt auch das eigene Selbstbewusstsein.
Der Mut zur Veränderung – kleine Schritte statt großer Sprünge
Den Weg vom Leiden zum Lösen zu finden, muss kein Sprung ins Unbekannte sein. Es beginnt mit einem kleinen Schritt: der Entscheidung, nicht mehr nur zu klagen, sondern aktiv den ersten Schritt zur Veränderung zu gehen. Dieser Wandel fordert Mut und Selbstreflexion, und er belohnt uns mit einem tiefen Gefühl der Selbstwirksamkeit.
Wenn wir aufhören, uns selbst in der Rolle des Leidenden festzuhalten, öffnet sich ein neuer Raum. Ein Raum, in dem wir erkennen, dass Veränderung bei uns selbst beginnt. Dann wird das „Lösen“ nicht zur mühsamen Arbeit, sondern zu einem aktiven, lebendigen Teil unseres Lebens und unserer Führung. Und das ist ein echter Schritt auf dem Weg zur Selbstführung, den wir als Hobits und Nauten wagen dürfen – mutig, eigenverantwortlich und lebendig.