Liebe Tatjana,

ich schreibe dir diesen Brief, weil ich dir etwas gestehen muss. Etwas, das ich dir damals nicht sagen konnte.

Du bist hier zu uns gekommen mit großen Plänen. Mit einer Begeisterung, die ansteckend war. Du wolltest die Welt erobern – träumtest davon, Maskenbildnerin zu werden, an großen Opernhäusern zu arbeiten, vielleicht am Max-Reinhardt-Institut in Wien oder der Komischen Oper Berlin. Die Bühne war dein Sehnsuchtsort. Du wolltest nicht nur Masken entwerfen, du wolltest die Kulisse gestalten, die Inszenierung mit erfinden. Eigentlich wolltest du das Ganze – alles auf einmal.

Und dein Einstieg in diese Welt begann hier, in meinem Friseursalon.

Tatjana, du hattest Flausen im Kopf. Das habe ich damals gesagt. Und ich habe sie dir ausgetrieben, so wie wir anderen die überflüssigen Barthaare entfernen. Ich habe deine großen Träume klein gemacht, weil ich nicht glauben konnte, dass sie wahr werden könnten.

Was wäre denn, wenn sich ein Mensch tatsächlich traut, seine Träume zu verwirklichen? Würden wir dann nicht alle überkandidelt sein? Wäre das nicht zu viel Freiheit, zu viel Glück?

Die Wahrheit ist: Ich hatte Angst vor deiner Freiheit. Ich hatte Angst vor deinen Träumen, weil sie mich an meine eigenen erinnerten – an die Träume, die ich längst begraben hatte. Ich habe den Salon meiner Eltern übernommen, ehrfürchtig und andächtig, aber ohne je über meinen eigenen Horizont hinauszusehen. Mein Weg war vorgezeichnet, seit ich 13 Jahre alt war.

Du warst anders. Du warst frei, kreativ, voller Sehnsucht nach dem großen Leben.

Und ich… ich habe versucht, dir diese Sehnsucht auszureden. Aus Angst. Aus Unsicherheit. Weil ich selbst nie den Mut hatte, über die Grenzen meiner kleinen Welt hinauszugehen.

Dabei warst du ein großartiger Lehrling. Du hast schnell gelernt, mit den Kunden liebevoll und achtsam umzugehen. Du warst sorgfältig, bodenständig, zuverlässig. Alles, was ich dir beibrachte, hast du aufgenommen, umgesetzt, verfeinert. Du warst eine Bereicherung für unseren Salon, für unser ganzes Team.

Aber ich habe dich enttäuscht.

Ich habe dir meine eigene Enge aufgedrückt. Meine eigene Unzulänglichkeit. Ich habe dir eingeredet, dass deine Träume zu groß, zu unrealistisch sind. Dass das Leben nicht so funktioniert. Ich habe dir die Begeisterung genommen, die dir so selbstverständlich zu eigen war.

Und dafür bitte ich dich um Verzeihung.

Ich hoffe, dass du dein Feuer wiederfindest. Dass die Flamme deiner Begeisterung wieder aufflammt und du losziehst, um die Welt zu verändern. Dass du die Menschen mit deiner Kunst berührst, sie schöner und strahlender machst, so wie du es immer wolltest.

Denn du hast diese Kraft in dir, Tatjana. Du bist eine Künstlerin. Und du bist dazu bestimmt, Großes zu schaffen.

Am Ende dieser drei Jahre habe ich das Gefühl, dass ich mehr von dir gelernt habe, als du von mir.

Bitte verzeih mir, dass ich das erst jetzt sehe.

Dein ehemaliger Meister

 

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