Ja, es ist Zeit.
Zeit, ehrlich zu sein. Zeit, mir selbst in die Augen zu schauen.
Warum habe ich sie nicht gemocht?
Diese unbändige Frau. Diese wilde Frau. Diese Frau, die mein Sohn gewählt hat.
Ich war von Anfang an gegen sie. Sie war zu selbstständig. Zu kritisch. Zu lebendig. Zu sinnlich.
Oh Gott.
Ich darf mir gar nicht vorstellen, wenn mein Sohn und sie zusammen sind, wenn sie sich berühren, wenn sie sich lieben. Allein der Gedanke daran macht mich kribbelig, unangenehm berührt, als müsste ich mich überall kratzen. Es ist anrüchig. Es stört mich.
Ich habe sie nie gemocht.
Nie gemocht, wie sie so lasziv durch den Vorgarten schritt, sich umsah – als würde sie ihn beanspruchen, als gehöre ihr ein Stück davon.
Nie gemocht, wie sie uns behandelte – respektvoll, freundlich, aber doch immer ein wenig distanziert. Nie wirklich unterwürfig, nie wirklich anpassungsbereit.
Ich wollte sie nicht hier.
Die anderen Frauen, die er mit nach Hause gebracht hat – die waren brav. Die waren anständig. Die hatten „etwas Richtiges“ gelernt. Eine Ausbildung, eine sichere Zukunft, einen Plan.
Aber sie? Sie war ein Freigeist.
Und dann das Schlimmste: Sie wollte nie Kinder.
Ich habe mich so sehr nach Enkelkindern gesehnt. Ich wollte stricken, backen, kleine Hände halten. Ich wollte ein Zuhause für die nächste Generation sein. Und sie? Sie hat mir das verweigert. Eine Mistziege.
Ich habe es ihr nie gesagt, aber ich habe es sie spüren lassen.
Ich war nie freundlich zu ihr. Ich habe die Familienfeste gehasst, weil sie so souverän war, so selbstbewusst. Ich habe jedes gemeinsame Essen zur Prüfung gemacht, jedes Gespräch zu einem Test, in dem sie nur verlieren konnte.
Und jetzt? Jetzt muss ich mir eingestehen, was dahintersteckt.
Ich beneide sie.
Ich wäre so gerne wie sie.
Ich wäre gerne so ungezwungen. Ich hätte gerne diese Freiheit. Ich hätte gerne ein Leben geführt, in dem ich mich nicht anpassen musste.
Aber das war in meiner Generation nicht vorgesehen.
Und so, mein lieber Thomas, habe ich sie dir schlechtgemacht. Ich habe sie dir ausgeredet. Ich habe euch das Leben schwer gemacht.
Ich habe sie verächtlich angesehen. Ich habe sie unwürdig behandelt. Ich habe gemeine Fragen gestellt – nach ihrer Ausbildung, nach ihrer Herkunft, nach ihren Eltern.
Und du?
Du hast geliebt.
Du hast zu ihr gestanden. Du warst treu und loyal und standhaft. Du hast nicht zugelassen, dass ich sie dir wegnehme.
Und jetzt?
Jetzt ist es wohl an der Zeit, ihr zu begegnen und ihr das zu sagen.
Und Thomas – ich sage es dir zuerst. Lass dir nichts anmerken, mein Junge. Aber ich werde in wenigen Tagen auf sie zugehen.
In Liebe, deine Mutter.
P.S. Vielleicht kannst du mich ja ein wenig dabei begleiten.