Ich sehe dich noch vor mir. Dorett war dein Name.
Du, alte Frau, 85, 90 Jahre alt. Seit Monaten ans Bett gefesselt. Du kannst nicht mehr aufstehen. Du bist pflegebedürftig und angewiesen auf Hilfe, die du nur schwer annehmen kannst.
Und du schreist.
Es ist dein Weg, mit dem Schmerz umzugehen. Du schreist stundenlang, Tag und Nacht, wie ein Bohrschlaghammer in meinem Ohr. Dein Körper ist angespannt, deine Hände gekrümmt, auf deiner Brust gekreuzt, wie ein Flitzebogen gespannt bis zur Erschöpfung. Es ist kaum möglich, dich zu waschen oder zu pflegen. Jeder Handgriff wird ein Kampf mit deiner Anspannung, deinem Schmerz.
Das geht nicht nur mir so. Auch dein Mann, der jeden Tag kommt, kämpft mit seiner Geduld. Auch mit seiner Liebe. Er hatte keine Ahnung, was er geschehen könnte, als er sein Ja-Wort auch zu den schweren Tagen sagte. Es versprach.
Und ich… ich war für dich zuständig. Ich war da, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Wochen, Monate, Feiertage, immer wieder war ich da. Eine junge Frau von 23. Ich wollte helfen. Aber ich war überfordert. Wir waren zu wenige. Zu viel Arbeit, zu viele Hilferufe, zu viel Last für zu wenig Schultern. Und dein Schreien hat mich zermürbt. Selbst wenn ich ganz dicht bei dir stand, liebevoll und sanft, hörte es nicht auf.
An einem dieser Tage, einem besonders dunklen Tag, an dem ich nichts mehr hatte – keine Geduld, keine Kraft, keine Fäden mehr, an denen ich mich festhalten konnte – habe ich etwas getan, was ich nie wollte.
Ich habe deine Hand gehalten. Nicht fest, nicht gewaltsam. Einfach nur gehalten, um dich zu beruhigen. Doch dein Körper war müde vom Leben. Deine Knochen, dünn und zerbrechlich wie Hühnerknochen, die meine Mutter früher in der Suppe verkochte, gaben nach. Plötzlich machte es knack.
Ein Finger gebrochen.
Ein Moment, ein winziges Geräusch – und ich war erschüttert. Entsetzt über mich selbst.
Ich bin geflüchtet, in die Wäschekammer. Ich habe geweint. Versteckt vor allen anderen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte dir wehgetan. Dir, die schon so hilflos war.
Später habe ich es meiner Vorgesetzten gesagt. Sie hat sich vor mich gestellt, mich geschützt. Die Hausärztin kam zur Visite. Es war nur ein kleiner Bruch. Deine Knochen waren porös, Glasknochen, sagte sie. Es war fast unvermeidlich.
Aber ich wusste es besser. Es war vermeidbar gewesen.
Ich hatte einfach nicht mehr die Kraft.
Es gibt keine Ausrede dafür. Ich könnte die Bedingungen nennen – den Personalmangel, die überfüllten Zimmer, die Hilflosigkeit, die wir jeden Tag sehen. Aber am Ende habe ich dir körperlich wehgetan. Und das hätte niemals passieren dürfen.
Es ist Jahre her. Jahrzehnte. Du lebst schon lange nicht mehr. Aber ich schäme mich noch immer. Ich möchte mich bei dir entschuldigen, auch wenn du meine Worte nicht mehr hören kannst.
Ich habe einen Fehler gemacht. Einen Fehler, der mich tief geprägt hat.
Ich habe dir wehgetan, und du hast es nicht verdient.
Was ist richtig, was ist falsch?
Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich bereue. Dass ich dich niemals vergessen habe.
Ein stilles Geständnis von Bärbel