Liebes Kind, liebes Mädchen, lieber Junge,
ich möchte mich bei dir entschuldigen.
Es hat mich mitgerissen. Vielleicht war es mein Frust, dass ich in meinem Berufsfeld nicht wirklich etwas verändern konnte. Vielleicht war es meine eigene Unsicherheit, die Suche nach Sinn und Halt. Und so habe ich nach etwas gegriffen, das mir wie ein Ausweg erschien. Ein neuer Trend, eine Bewegung, die vieles versprach. Freiheit, Selbstbestimmung, Veränderung.
Ich habe geglaubt, ich tue das Richtige, wenn ich dir Türen öffne, wenn ich dir sage: Du kannst alles sein. Alles ändern. Auch dein Geschlecht, wenn du dich suchst und nicht sicher bist, wer du bist.
Ich habe geglaubt, das wäre Freiheit.
Doch jetzt, mit zunehmender Reife, mit dem Wissen aus Büchern, mit Zeit zum Nachdenken, sehe ich es anders. Die wahre Freiheit ist nicht die, alles zu verlassen und radikal zu verändern. Die wahre Freiheit liegt darin, Frieden in uns selbst zu finden. Uns anzunehmen. Uns zu entfalten, ohne uns selbst zu verleugnen.
Ich habe mich blenden lassen. Von Broschüren, Aufklärungsheften, Kampagnen und Büchern, die angeblich Klarheit bringen sollten. Doch im Nachhinein denke ich, sie haben uns nicht aufgeklärt – sie haben uns beeinflusst. Sie haben uns eingeredet, dass der Wechsel des Geschlechts ein einfacher, freier Weg sei. Ein schneller Ausweg aus Unsicherheit.
Aber die Unsicherheit bleibt.
Denn die wahre Frage – wer wir sind – wird nicht durch einen Wechsel der äußeren Hülle beantwortet. Ein anderes Kostüm, ein anderer Mantel ändert nichts an der Seele, an der Psyche, an der Kraft in uns. Wir bleiben immer noch wir.
Und nun, kurz vor der Rente, frage ich mich: Was habe ich getan? Ich habe diesen Hype unterstützt, mitgetragen. Vielleicht aus Bequemlichkeit. Vielleicht, weil es so viel einfacher war, mit der Masse zu gehen, statt innezuhalten. Überall hingen Regenbogenfahnen. Überall wurde uns gesagt, das sei der richtige Weg. Der mutige Weg.
Doch jetzt sehe ich dich, kleines Mädchen. Ich sehe dich, kleiner Junge.
Und ich wünsche dir, dass du den Mut findest, dich nicht von außen beeinflussen zu lassen. Dass du nicht das Gefühl hast, du müsstest dich verändern, um zu bestehen. Sondern dass du in dir selbst den Halt findest, den Samen deiner wahren Freiheit. Dass du dich annimmst, mit all deiner Stärke, deiner Einzigartigkeit.
Es ist ein Geschenk, ein Mädchen zu sein. Ein Geschenk, ein Junge zu sein.
Das habe ich verstanden.
Und ich hoffe, dass du dieses Geschenk in dir hütest. Dass du es nährst und pflegst. Und dass du in dir selbst die Antworten findest, wenn du suchst – nicht draußen, in Trends oder Erwartungen anderer, sondern ganz tief in dir.
Mit diesem Geständnis hoffe ich, etwas von dem zurückzugeben, was ich falsch gemacht habe. Ich wünsche dir, dass du frei wirst. Wirklich frei.
Deine Ursula