Ambiguitätstoleranz

von | 07. Juni 2023 | Persönliches

Ambiguitätstoleranz – eine der zentralen und wichtigsten Zukunftsfähigkeiten.

Als Trainerin, Mentorin und Coach setze ich mich immer wieder intensiv damit auseinander, wie diese zentrale Fähigkeit wertvoll und nachhaltig vermittelt werden kann. Sehr viel durfte ich in meinen 15 Jahren Altenpflege von den alten Menschen selber lernen.

Eine andere Meinung oder Haltung zur akzeptieren ist m.E. eines der wesentliches Fähigkeiten für ein gutes Miteinander im Großen und im Kleinen.

Ein Rückblick:

Da liegt er, die verwirrte ehemalige Führungskraft, verbittert und müde. Viele Jahre lang hat er anderen Menschen die Arbeitswelt verleidet. Seine Altersverwirrtheit könnte eine Folge davon sein, dass er diese „grobe“ Haltung, die er über Jahrzehnte gezeigt hat, noch nicht verarbeitet hat und noch nicht so etwas wie eine Demut oder einen inneren Frieden gefunden hat. Oft reagiert er schroff und abweisend. Er flucht, schreit und schimpft regelmäßig. Meine Aufgabe ist es, ihn zu würdevoll pflegen. Er fordert Respekt ein und bekommt ihn auch.

Da sitzt er im Rollstuhl, beide Beine amputiert und fragt mich täglich nach einer Zigarette. Er kann sein Körperpflege und das An- und Ablegen der Beinprothesen kaum noch selber ausführen. Beide Beine sind aufgrund von Durchblutungsstörungen als Folge des Rauchens amputiert. Meine Aufgabe ist es, ihn zu respektvoll zu pflegen.

Die kleine, dralle Diabetikerin schaut mich mit großen Augen an und bittet mich um ein Stück Torte. Sie möchte nicht den trockenen Kuchen, der für die Menschen mit der Diagnose Diabetes vorgesehen ist. Sie ist weit über 90 Jahre und hat Lust auf einen leckeren Kuchen. Sie hat aufgrund des Diabetes offene Beine, die unter anderem ich zu versorgen habe.

Wir diskutieren im Pflegeteam nicht, ob der Diabetes selbst verschuldet ist.

Sie ist schwer dement, ist Professorin mit einem ehemals sehr hohen IQ, sie führte eine Ehe mit einem Professor, der regelmäßig Liebschaften hatte. Sie hielt es aus und blieb an seiner Seite und nahm sich selber immer wieder zurück. Im Alter kam der Schmerz hoch, nicht ihr Leben gelebt zu haben. Jetzt ist es zu spät. Sie verwechselt die Menschen in ihrer jetzigen Umgebung mit denen von früher und bereut sehr viel. Es fällt ihr sichtbar schwer, das bevorstehenden Lebensende anzunehmen. Sie fordert sehr viel Fürsorge und Aufmerksamkeit, weil sie nach Liebe hungert. Sie bekommt täglich eine geduldige Ansprache und Unterstützung für ihren Alltag. Keiner wirft ihr vor, eine unpassende Ehe eingegangen zu sein.

Er hat als junger Mann Bomben auf Menschen geworfen, denn sein Erwachsenenleben begann als Soldat. Er leidet immer noch unter dem Schmerz, den er durch seine Handlungen anderen Menschen angetan hat und liegt mit der Diagnose chronischer Depression im Bett. Meine Aufgabe ist es, diesen Menschen liebevoll und respektvoll zu versorgen.

Er ist mit in den Krieg gezogen und ist in Russland beinahe verhungert, viele Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kommt er zurück und muss noch einmal von vorne anfangen. Seine Jugend hat er auf dem Schlachtfeld verbracht. Er ist nun alt, dünn, müde und voller Hass auf Menschen, die eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Er hasst alle Ausländer. Pflegekräfte die eine andere Muttersprache haben werden von ihm abgelehnt. Er bekommt nach diesen traumatischen Erlebnissen keine andere Sicht auf die Dinge. Er ist ein typischer Bewohner eines Altenheimes und es ist meine Aufgabe, ihn zu versorgen und für ihn da zu sein, obwohl ich seinen „Fremdenhass“ schwer ertrage. Aber er verdient meinen Respekt, wie jeder andere Mensch auch.

Sie ist mehrfach vergewaltigt worden und tief traumatisiert. Sie hat Angst, ist müde und wirklich alt. Ihr Alltag besteht aus extremen Ängsten. In der Folge schlägt sie und wehrt sich bei der durchzuführenden Körperpflege, die sie selber nicht mehr durchführen kann. Meine Aufgaben ist es, sie emphatisch und liebevoll in der Körperpflege und auch in einem liebenswerten Alltag zu unterstützen.

Es gibt noch mehr Beispiele:

Menschen, die zu viel und zu lange Alkohol getrunken haben und ihre Leber sowie natürlich den gesamten Körper geschädigt haben.

Menschen, die zu wenig Flüssigkeit zu sich nehmen, die austrocknen und deshalb nicht immer orientiert sind.

Menschen die lebensmüde sind.

Menschen nach – selbst oder fremd verschuldeten – Unfällen, Menschen nach Schicksalsschlägen, Menschen die ein Konzentrationslager überlebt haben. Menschen, die widrige Arbeitsumstände erleben mussten und deren Körper davon erschöpft waren. Menschen, die sich Krankenhauskeime „eingefangen haben, Menschen, die ungeeignete Medikamente bekommen haben. Menschen, die sich zu wenig bewegen und die falsch therapiert worden sind. Menschen, die schlechte Hilfsmittel bekommen haben, die nicht passen. ……

In 15 Jahren ambulante und stationäre Altenpflege, incl. Reha-Einrichtungen und Langzeit- sowie Akutpsychiatrie habe ich unfassbar viele unterschiedliche Menschen und ihre Schicksale erlebt. Als ausgebildete Pflegekraft wäre es mir niemals in den Sinn gekommen zu sagen: „Ich pflege dich nicht, weil Du….“!

Sondern ich war da und habe versucht, jeden Menschen so gut wie möglich zu begleiten, zu versorgen und ihm ein würdevolles Alter zu ermöglichen. Eine Abgrenzung oder ein Ausschluss aufgrund einer Erkrankung oder deren vermutlicher Ursache wäre für mich undenkbar. Schuldzuweisungen wegen medizinischer oder pflegerischer Fehler, eine Ablehnung von notwendiger Unterstützung oder Hilfe waren für mich unmöglich.

Auch jetzt grenze ich keinen Menschen aus. Ich arbeite mit Menschen zusammen, die sich weiter entwickeln möchten, die ihre eigene Performance, z.B. durch einen Vortrag, eine Präsentation oder ein Bildungskonzept voranbringen möchten, Menschen, die sich für ein Thema einsetzen und diesem dienen. Ich arbeite mit Menschen zusammen, die rauchen oder nicht, die Fleisch essen oder nicht, die Schlaftabletten nehmen, um abends einzuschlafen oder nicht. …….

P.S. Dieser Beitrag ist bereits 2 Jahre alt – aber immer noch aktuell.