Die Kunst, Raum für Wahrheiten zu halten
Es gibt Momente, in denen jemand überzeugt ist, dass seine Sicht die richtige ist. Die Worte sind fest, die Meinung klar, und die Energie im Raum ist aufgeladen. Doch statt sofort darauf einzusteigen, bleibe ich still. Nicht, weil ich nichts zu sagen hätte, sondern weil ich weiß, dass echte Klarheit oft Zeit braucht.
Diese Stille ist nicht leer. Sie ist kein Zeichen von Zustimmung oder Ablehnung. Sie ist ein Raum, ein Gefäß, das ich halte, damit die Worte und Gedanken des anderen wirken können – und damit auch ich sie wirken lassen kann.
Die Kraft des Hinterfragens – inspiriert von „The Work“
Ich denke oft an die Methode von Byron Katie, die mit ihren vier Fragen einen kraftvollen Ansatz bietet, um Annahmen und Überzeugungen zu hinterfragen:
1. Ist das wirklich wahr?
2. Kann ich mit absoluter Sicherheit wissen, dass es wahr ist?
3. Wie reagiere ich, wenn ich diesen Gedanken glaube?
4. Wer wäre ich ohne diesen Gedanken?
Und dann kommt die Umkehrung. Dieser Moment, in dem wir die Perspektive wechseln und plötzlich erkennen, dass jede vermeintliche Wahrheit auch eine andere Seite hat.
Doch dieser Prozess braucht Zeit. Zeit, um die Überzeugung zu durchleuchten, zu fühlen, zu hinterfragen. Es ist wie ein Braten, der langsam im Ofen schmoren muss, um seine Aromen wirklich zu entfalten. Wer zu früh darauf drängt, riskiert, dass die Essenz verloren geht.
Innensicht und Außensicht – Die Projektionen verstehen
Die Überzeugung eines Menschen ist oft mehr als nur eine Aussage. Sie ist ein Spiegel. Ein Spiegel dessen, was er in sich trägt, was ihn bewegt, was ihn vielleicht auch verletzt. Projektionen haben eine Innen- und eine Außensicht: Sie sagen etwas über den Menschen, der spricht, und sie treffen etwas in dem, der zuhört.
Wenn jemand mir seine Sicht erklärt, sehe ich das oft als Einladung, tiefer zu blicken. Was sagt das über ihn? Was sagt das über mich? Wo bin ich selbst in meiner Projektion gefangen? Diese Reflexion ist Teil meines eigenen Prozesses, ein Teil der Horizontarbeit, die ich lebe.
Raum halten statt reagieren
Manchmal ist die größte Herausforderung, den Raum zu halten, statt sofort zu reagieren. Es geht darum, die eigene Meinung nicht wie eine Waffe zu zücken, sondern die Stille zuzulassen, in der Gedanken reifen können.
Diese Stille ist eine Einladung. Eine Einladung, dass der andere sich selbst erkennt, dass ich mich selbst erkenne und dass zwischen uns etwas Neues entstehen kann. Sie ist kein Verzicht auf Wahrheit, sondern eine Möglichkeit, mehrere Wahrheiten nebeneinander stehen zu lassen – bis sie sich in etwas Tieferem verbinden.
Die horizonautische Arbeit: Raum für Transformation
Für mich als Horizonautin ist diese Fähigkeit, still zu sein und Raum zu halten, ein zentrales Werkzeug. Es ist die Bereitschaft, nicht sofort auf jede Überzeugung einzusteigen, sondern sie wirken zu lassen. Es ist das Vertrauen, dass die Zeit und der Raum, den wir geben, oft mehr bewirken als jedes schnelle Wort.
Denn Veränderung, Erkenntnis, Wachstum – all das entsteht nicht durch Drängen, sondern durch einen Prozess, der reifen darf. Manchmal in der Stille, manchmal in der Auseinandersetzung, immer aber in der Bereitschaft, wirklich zuzuhören.
Fazit: Die Weisheit der Stille
Still zu sein, wenn andere überzeugt sind, erfordert Mut. Es erfordert Vertrauen in den Prozess und die Bereitschaft, den Raum zu halten, in dem Gedanken sich entfalten können. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke – eine Stärke, die uns einlädt, tiefer zu blicken, zu hinterfragen und letztlich zu wachsen.
Denn manchmal ist die größte Wahrheit nicht das, was wir sagen, sondern das, was wir zulassen. In der Stille, im Raum, im gemeinsamen Wachsen.